Sexualität beim Menschen

Sexualität beim Menschen
Sexualität beim Menschen
 
Warum sind überhaupt Frau und Mann notwendig und warum ist die Sexualität als Magnet und Motor der Fortpflanzung so wirksam? In der Natur gibt es auch andere Lösungen für das Problem, Nachkommen zu zeugen: Die ungeschlechtliche Vermehrung, die Jungfernzeugung, der Hermaphroditismus (die Vereinigung männlicher und weiblicher Fortpflanzungsorgane in einem Körper) und andere Formen der Reproduktion. Dieses interessante Feld kann hier nicht weiter behandelt werden. Wir können aber feststellen: In der Evolution hat sich ab einer bestimmten Entwicklungsstufe die geschlechtliche Vermehrung durchgesetzt; ein männlicher und ein weiblicher Organismus vereinigen sich, woraus ein neuer Organismus entsteht, dessen Genom, das heißt alle genetisch festgelegten Bauanleitungen, zur Hälfte von der Mutter und zur Hälfte vom Vater stammt.
 
Im Bereich des Lebendigen gibt es keinen wichtigeren Imperativ, als neues Leben zu erzeugen. Das ist bei Tieren und Pflanzen wie Bakterien der Fall. Sexuelles Verhalten dient primär diesem Prinzip. Bei den meisten Tieren sind die Suche nach einem geeigneten Anderen, das Werben um einen solchen potenziellen Partner und die vielfältigen Formen des eigentlichen sexuellen Verhaltens durch genetisch vermittelte Programme ziemlich starr festgelegt. Ähnlich festgelegt ist auch der Zeitpunkt der Kopulation. Im Tierreich erfolgt sie fast immer dann, wenn tatsächlich neues Leben gezeugt werden könnte. Außerhalb dieser Perioden sind vor allem weibliche Tiere selten bereit und in der Lage, die Kopulation mit einem Männchen zuzulassen.
 
 Partnerschaft für den Nachwuchs
 
Die Sexualität des Menschen ist prinzipiell anders. Evolutionsbiologen sehen die menschliche Sexualität als einen geschickten Kniff der Evolution, Frau und Mann dauerhaft aneinander zu binden. Die menschlichen Jungen bedürfen einer besonders langen und sehr aufopferungsvollen Aufzucht, bis sie selbst das Erwachsenenalter mit etwa 16 bis 20 Jahren erreichen. Wenn Mutter und Vater sich die Aufzucht des Nachwuchses teilen, gelingt sie am besten. Sonst hätte sich für den Menschen weltweit das durchgesetzt, was wir bei vielen Tieren finden: Der Vater zeugt das Kind, und die Mutter ist zuständig für alles, was danach kommt. Doch auch in der menschlichen Partnerschaft tragen Frauen die weitaus größere reproduktive Last: Schwangerschaft, Geburt, Stillen und die Fürsorge für den Säugling und das heranwachsende Kind sind biologisch belastende, zum Teil gefährliche und psychologisch-emotional fordernde Vorgänge. Kurz, Frauen investieren in allen Kulturen im Durchschnitt mehr in ihre Kinder als Männer.
 
Dennoch, die meisten Männer beteiligen sich am Großziehen der Kinder, obwohl sie ein ganz spezifisches Problem mit der Reproduktion haben: Sie können sich nie hundertprozentig sicher sein, ob das Kind, für das sie sorgen, wirklich ihr eigenes ist. Heute kann man durch genetische Fingerabdrücke genau feststellen, wer mit wem verwandt ist und ob ein bestimmter Mann der Vater eines bestimmten Kindes sein kann oder nicht. Untersuchungen in einigen europäischen Ländern erlauben die Schätzung, dass innerhalb einer Spanne von wenigen bis zu etwa 20 Prozent die Kinder nicht von den Männern gezeugt wurden, die als Ehemänner oder Partner glauben, der Vater zu sein. »Pater semper incertus.« Wer der Vater ist, ist immer unsicher, so haben die Römer diesen Sachverhalt ausgedrückt. Männer leben also seit jeher mit dem Risiko, ihre emotionale und materielle Zuwendung einem Kind zukommen zu lassen, das möglicherweise nicht von ihnen stammt, also statt der Hälfte ihrer Erbanlagen keinerlei genetische Verwandtschaft mit ihnen hat. Frauen dagegen wissen immer, dass sie die biologischen Mütter ihrer Kinder sind.
 
 Kriterien der Partnerwahl
 
Organismus und Psyche der Frauen stellen praktisch immer mehr für das Kind bereit als jene ihrer Partner. Schon die Eizelle ist ungleich größer als ein Spermium. Männer und Frauen haben daher, so die Folgerung, bei Sexualität und Fortpflanzung etwas unterschiedliche Interessen. Ehe oder eheähnliche Partnerschaft sind so gesehen ein Kompromiss, den beide zum gemeinsamen Vorteil schließen. Wie alle Kompromisse ist ein solches Bündnis eine Annäherung an einen optimalen Zustand, keine ideale Lösung.
 
Frauen und Männer haben nach Kulturen vergleichenden Untersuchungen in der Tat etwas unterschiedliche Präferenzen. Frauen bevorzugen (und das ist eine statistische Aussage, es kann also durchaus auch individuelle Gegenbeispiele geben) überall Männer, die etwas älter sind als sie selbst, Männer, die sich in sozialen und ökonomischen Positionen befinden, die erwarten lassen, dass es der Familie gut gehen, dass Mutter und Kinder günstige Chancen haben werden, sodass die Nachkommen dieser Partnerschaft selbst wieder Nachkommen haben können. Auf der anderen Seite bevorzugen die Männer Frauen, die jünger sind als sie und durch ihre Schönheit und damit signalisierte Gesundheit sowie ihre sozialen, geistigen und psychischen Eigenschaften erwarten lassen, dass sie gesunde Kinder bekommen und ihnen eine einfühlsame, liebevolle Mutter sein werden. Der Einzelne muss sich dieser bevorzugten Suchbilder gar nicht bewusst sein. Die Biopsychologie geht davon aus, dass viele der zugrunde liegenden Steuerungsmechanismen unbewusst ablaufen.
 
Sexualität beim Menschen ist also die Anziehungskraft, die bewirkt, dass zwei eigentlich so ungleiche Wesen wie Frauen und Männer über einen möglichst langen Zeitraum, idealerweise bis zum Erwachsenwerden ihrer Kinder, oft auch darüber hinaus, zusammenbleiben. Frauen und Männer sind erotisch auf sehr vielfältige Weise stimulierbar und haben ein ähnlich großes Interesse am Sex. Dass Frauen dieses Interesse in ähnlicher Weise permanent spüren wie Männer, ist eine besonders wichtige Voraussetzung für die typisch menschliche Sexualität. Mit Ausnahme der Zeit der Menstruation, der späten Schwangerschaft und einer gewissen Zeit nach der Geburt ist für beide die Verlockung, mit ihrem Partner zusammen zu sein, in den meisten Kulturen ähnlich groß und zeitlich ähnlich durchgängig präsent. Sexuelles Verhalten ist also beim Menschen weitgehend von der Fortpflanzung abgekoppelt. Erotik, Geschlechtsverkehr und die durch das gemeinsame intime Erleben erzeugte Bindung sind ganz entscheidende Faktoren, die neben den primären Antrieb, Nachkommen zu erzeugen, getreten sind.
 
 Ein Blick auf unsere nächsten Verwandten
 
Nur bei einer Art in der gesamten Tierwelt wird die Sexualität noch universeller, noch unabhängiger von der Fortpflanzung eingesetzt als bei uns: bei den Bonobos. Bei diesen Tieren kopulieren Weibchen mit Weibchen, Männchen mit Männchen, Junge mit Alten, Alte mit Jungen in einer Häufigkeit und Vielfalt, die unsere bisweilen als übersexualisiert bezeichnete menschliche Gesellschaft regelrecht prüde aussehen lässt. Das sexuelle Verhalten minimiert bei dieser Art soziale Spannungen und festigt den Gruppenzusammenhalt. Die meisten sexuellen Handlungen in den Gruppen der Bonobos führen demzufolge nicht zur Befruchtung. Die »richtigen« Schimpansen haben dagegen ein anderes sexuelles System: Weibchen und Männchen kopulieren ebenfalls ohne festgelegte Partnerschaft, aber eigentlich immer in Zusammenhang mit der Fortpflanzung. Bei Gorillas kontrolliert ein mächtiges Männchen, der »Silberrücken«, einen Harem von Weibchen. Bei den Orang-Utans treffen sich anscheinend Weibchen und Männchen nur zum Zweck der Kopulation; ansonsten leben sie mehr oder weniger getrennt. Bei den fünf am höchsten entwickelten Primaten, einschließlich dem Menschen, gibt es also fünf sehr unterschiedliche Sexualsysteme. Jede Art hat im Verlauf der Evolution ihre spezifische Lösung für das Erzeugen von Nachkommen und der Sorge um sie gefunden.
 
 Sexuelle Eifersucht und Scham
 
In allen Kulturen hüten Frauen und Männer eifersüchtig ihre sexuellen und Fortpflanzungspartner. Bekannterweise gibt es einige Ausnahmen wie Partnertausch, doch weltweit betrachtet und in den Dimensionen unserer eigenen Gesellschaft spielen solche Verhaltensweisen eine sehr geringe Rolle. Bisweilen wird von Völkern berichtet, in denen es keinerlei sexuelle Eifersucht gegeben habe oder gebe. Nach neuen ethnologischen Forschungen kann man aber davon ausgehen, dass solche Darstellungen auf einer ungenügenden Faktensammlung beruhen und daher unrichtig sind. Die Polynesier werden in der Literatur häufig als Menschen beschrieben, bei denen es weder sexuelle Scham noch sexuelle Eifersuchtsreaktionen gegeben habe. In der Südsee reagiert man aber auf einen »Seitensprung« des Ehepartners oder der Ehepartnerin ähnlich verletzt wie bei uns. So unterschiedlich, wie man meinen möchte, sind die Kulturen im Hinblick auf die Sexualität also nicht.
 
Sexuelle Scham ist in der Tat ein universelles Phänomen, und der Geschlechtsverkehr findet nirgendwo, bis auf sehr seltene Ausnahmen, in aller Öffentlichkeit statt. Dieser intimste aller Akte ist biopsychisch offenbar so gesteuert, dass wir die Intimität, die Abgeschiedenheit von den anderen suchen und im Normalfall nicht wünschen, dass es Zeugen dabei gibt. Doch warum das, warum nicht die Kopulation auf dem Dorfplatz? Evolutionsbiologen erklären das so: Bereits bei manchen Affenarten gibt es die Tendenz, dass ein Weibchen und ein Männchen eine relativ feste Bindung zueinander aufbauen. Das heißt, sie suchen die Nähe des anderen, teilen Nahrung und verstehen sich offenbar insgesamt gut. Aus dieser Beziehung ergibt sich häufig ein sexuelles Verhältnis. Wenn, so die Vermutung, die »Verliebtheit« der beiden und ihre sexuellen Akte in der Gruppe stattfänden, wäre die Chance groß, dass ein mächtiges Alpha-Männchen die Zweisamkeit durch einen Angriff stören würde. Auch hochrangige Weibchen könnten das tun. Solche Interventionen kommen in der Tat oft vor, einschließlich regelrechter Bestrafung der Betroffenen. In der Abgeschiedenheit hätten die beiden eine größere Chance, ungestört zu bleiben. Eine solche Präferenz für Intimität käme vor allem den Weibchen zugute, die ihre Partnerwahl unbeeinflusster von einem oder mehreren dominanten Männchen treffen könnten. Die menschliche Sexualität ist das Ergebnis unserer langen Stammesgeschichte und gleichzeitig eine ganz spezifische Lösung der Frage »Wie finde ich einen Partner, eine Partnerin, mit dem/der ich Kinder haben möchte?«.
 
Dr. Sabine Schiefenhövel-Barthel und Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Schwangerschaft: Von der Befruchtung zum Fetus
 
 
Davies, Nigel: Liebe, Lust und Leidenschaft. Kulturgeschichte der Sexualität. Aus dem Englischen. Reinbek 1987.
 Denzler, Georg: Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral. Neuausgabe München u. a. 1991.
 Fausto-Sterling, Anne: Gefangene des Geschlechts? Aus dem Amerikanischen. München u. a. 1988.
 Frings, Matthias: Liebesdinge. Sonderausgabe Reinbek 1995.
 Gould, James L. / Grant Gould, Carol: Partnerwahl im Tierreich. Aus dem Englischen. Heidelberg 1990.
 Kockott, Götz: Die Sexualität des Menschen. München 1995.
 Loewit, Kurt: Die Sprache der Sexualität. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1992.

Universal-Lexikon. 2012.

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